Das Goldene Zauberschwert und der Beginn der Dunkelheit.

Aus dem Anfang des ersten Teils von der Trilogie: Das Goldene Zauberschwert. Es handelt sich um die ersten zwei Kapitel der Geschichte.


Jagdzeit.        

 

Unsere Geschichte spielt im Jahre vierhundertfünfzig nach Null. Wir befinden uns im Lande Skandidafiena, genauer: in einer Stadt namens Tralleri.

Etwas außerhalb dieser Stadt hatten sich die Bauern angesiedelt. Sie lebten in Holzhütten, deren Dächer mit Stroh bedeckt waren. In den Seitenwänden befanden sich kleine Rauchlöcher, damit der Rauch abziehen konnte, wenn in den kleinen Stuben gekocht wurde.

Das Ackerland der Bauern war zweigeteilt: Auf der einen Hälfte wurde Getreide angebaut, auf der anderen hingegen nichts, damit der Boden sich wieder erholen konnte. Man spricht hierbei von brachliegen.

Von der heute üblichen Dreifelderwirtschaft hatte damals noch niemand gehört.

In einem der genannten Bauernhäuschen lebte ein Junge namens Merler, die Hauptperson unserer Geschichte.

Merler war ein durch und durch gewöhnlicher Junge: vierzehn Jahre alt, schlank, braunhaarig. Das Ungewöhnliche an Merler waren die Visionen, welche er in unregelmäßigen Abständen bekam, oft in seinen Träumen. Wenn er deswegen schweißgebadet aus dem Schlaf schreckte und nach seinem Vater rief, reagierte dieser stets mit Wut, hinter welcher die Angst lauerte. Was die Menschen nicht verstehen, macht ihnen Angst. Das war damals nicht anders als heute.

Merler hatte eine Schwester, die Gremel hieß und sechzehn Jahre alt war, und einen Bruder namens Arno. Arno war schon siebzehn.

Merlers einziger Freund hieß Rada, ein gleichaltriger, ebenso braunhaariger und ebenso gewöhnlicher Junge wie er selbst.

An diesem ersten sonnigen Frühlingstag, an dem die Geschichte beginnt, begann auch die Jagdzeit.

Merler lag in seiner ärmlichen Kammer auf dem Bett und war wie so oft tief in Gedanken versunken, als sein Vater mit seiner dröhnenden Stimme rief: „Merler! Komm endlich runter!“ Merler fuhr aufgeschreckt hoch und stieß mit dem Kopf gegen die Wand. Er rieb sich die Stirn, schlüpfte rasch in seine Schuhe und rannte aus dem Haus. Draußen stand Vater mit vor Ungeduld verzerrter Miene, neben ihm der Rest der Familie.

„Wo warst du?“ fragte Merlers Vater langsam und erhob drohend seinen rundlichen, einer Wurst nicht unähnlichen Zeigefinger.

„Ich dachte über eine Vision nach, die ich heute Nacht hatte“, sagte Merler unvorsichtig. „Das Land Alambinea wurde angegriffen, von scheußlichen Kreaturen.“

„Ach, tatsächlich?“ fragte Arno spöttisch. „Hat unser kleiner Bruder wieder Alpträume und muss getröstet werden? Soll ich…“

„Still!“ wurde er von seiner Mutter unterbrochen. Und der Vater flüsterte Merler in bedrohlichem Ton ins Ohr: „Du lässt uns mit diesen verfluchten Visionen zufrieden!“

„Ja, Vater“, sagte Merler leise. „Ich versuche es.“

„Du versuchst es nicht, du tust es!“ donnerte der Vater. „Und zwar ab sofort! Hast du mich verstanden? So, hier sind Köcher und Bogen für dich. Nimm.“ Merler blickte auf den mit Pfeilen gefüllten Köcher, welchen ihm der Vater reichte, und schwieg.

„Vater”, meldete sich abermals Arno zu Wort, „meine Bogensehne ist kaputt. Einfach zerrissen.“

„Das kann doch nicht wahr sein”, seufzte der Vater. „Dann müssen wir also in die Stadt.“

Merler spürte eine stille Freude in sich aufwallen. Er ging gerne in die Stadt, denn dort gab es eine Menge interessanter Dinge zu sehen.

„Gehen wir etwa alle zusammen?“ fragte Arno mit einem missgünstigen Blick auf seine jüngeren Geschwister. Die Mutter sah ihn strafend an.

„Ja, natürlich“, antwortete sie. „Alle zusammen.“

Die Stadt lag auf der Spitze eines hohen Hügels, geschützt von dicht stehenden Bäumen. Von unten konnte man –  abgesehen von den Fahnen – nichts von ihr sehen.

Als Merlers Familie nach einem tüchtigen Fußmarsch endlich am Tor anlangte, herrschte innerhalb der Mauern geschäftiges Treiben. Wohin man auch blickte, es wimmelte nur so vor Leuten. In den meisten Geschäften hatten sich lange Warteschlangen gebildet. Das war typisch für den Frühling: alles strömte in die Stadt, die langsam wieder zum Leben erwachte.

Merlers Mutter warf ihrem Mann einen besorgten Blick zu.

„Es bleibt noch nicht besonders lange hell“, gab sie zu bedenken. „Bis wir die Waffenschmiede erreicht haben…“

„Ich kenne eine Abkürzung“, beruhigte sie der Vater. „Bleibt dicht hinter mir.“

Sie ließen das Getümmel hinter sich und durchschritten eine schmale, totenstille Gasse. Die Häuser der Leute, wirkten dunkel und abweisend. Die gesamte Gasse machte dadurch einen unheimlichen Eindruck.

Die Gasse mündete in einer breiten Straße, welche zu beiden Seiten von Läden gesäumt war. Die Läden warben mit bunten, seltsamen Waren um Käufer, doch auch hier waren nicht viele Menschen unterwegs.

„Die Waffenschmiede gehört einem Bekannten von dir, nicht?” fragte Merler seinen Vater. „Wie heißt er?“

„Habe ich dir nie von ihm erzählt? Sein Name ist Markolo.“ Vor einem kleinen Laden blieb der Vater stehen. „Hier wären wir“, rief er, „dies ist Markolos Laden.“

Merler ließ seinen Blick über die Fassade des Ladens gleiten. Grün war sie, und übersät mit schmutzig roten Flecken.

Er folgte seinen Eltern hinein, neugierig, was ihn wohl erwarten würde.

Das Innere des Ladens wirkte richtig gemütlich. In einem Kamin knisterte ein Feuer, und es war angenehm warm.

An der Theke war niemand zu sehen. Es dauerte aber gar nicht lange, da stürzte ein großer, dürrer Mann durch eine im Hintergrund verborgene Tür.

„Was darf es denn sein, was darf es…“ begann er geschäftig. Als er jedoch gewahrte, wer vor ihm stand, brach er mitten im Satz ab, und ein Lächeln überzog sein Gesicht.

„Mein Freund” rief er fröhlich. „Wie schön, dich zu sehen! Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.“

„Ich würde dich nie vergessen“, sagte Merlers Vater ernst. „Das weißt du.“

Markolo nickte lächelnd. „Was führt dich nun zu mir?“

Der Vater legte Arnos zerrissene Bogensehne auf den Ladentisch. „Ich brauche eine neue Sehne“, sagte er. „Mit dieser hier ist nichts mehr anzufangen.“

„Nein, das sehe ich“, erwiderte Markolo. „Für eine neue Sehne bekomme ich fünf Bronz und dreißig Scha.“

Merlers Vater kniff die Augen zusammen. „So viel kostet es jetzt?“ fragte er ungehalten. „Kannst du mir keinen günstigeren Preis machen?“

Markolo schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein“, entgegnete er. „Es tut mir Leid, Freund. Die Steuern sind erhöht worden, und ich muss sehen, wo ich bleibe.“

„Nicht schon wieder!“ schimpfte der Vater. „Wann haben sie die Steuern zuletzt erhöht – war es nicht im Herbst? Und nun erneut? Wie viel verlangen sie denn?“

„Sieben Bronz“, sagte Markolo mit einem tiefen Seufzer. Merler sah seinen Vater leicht zusammenzucken.

„Wie bitte?“ fragte er. „Das ist doch nicht dein Ernst?”

Markolo nickte grimmig. „Oh doch.“

Merlers Vater zuckte resigniert die Achseln und drückte Markolo den erwünschten Betrag in die Hand.

„Ich danke dir“, sagte Markolo. Während er dann eine passende Sehne für Arnos Bogen hinterm Verkaufstisch hervorholte, schauten Merler und seine Geschwister sich im Laden um. Besonders für Merler war das alles sehr interessant: die Schwerter, die Bögen, unzählige andere Waffen.

Markolo reichte Arno eine neue Sehne. „Hier, mein Junge“, sagte er. „Ich wünsche dir damit viel Erfolg bei der Jagd.“

Die Familie verabschiedete sich von Markolo. Sie verließen den Laden, und verließen die Stadt.

Am Waldrand angekommen, blieb Merlers Mutter stehen und legte ihrem Mann die Hand auf die Schulter.

„Wir werden uns nun trennen“, sagte sie. „Gremel und ich haben beschlossen, Beeren zu sammeln, während ihr jagen geht.“

 

Der Geheime Weise.

 

Merler, Arno und der Vater waren noch nicht weit in den Wald eingedrungen, als der Vater plötzlich stehen blieb und warnend die Hand hob.

„Rehe!“ flüsterte er. Die beiden Jungen nickten wortlos. Sie harkten ihre Pfeile ein und pirschten sich leise an die ahnungslos äsenden Tiere heran.

„Auf meinen Befehl!” flüsterte der Vater. Und gleich darauf: „Jetzt!” Drei Pfeile sirrten durch die Luft – und die Rehe verschwanden mit hastigen Sätzen unversehrt im Dickicht.

Der Vater schüttelte grimmig  den Kopf. „Alle drei verfehlt“, sagte er mit einem Blick auf die drei Pfeile, welche sich tief in den weichen Waldboden gebohrt hatten. „Weiter.“

Sie zogen die Pfeile aus der Erde, steckten sie zurück in die Köcher und folgten einem schmalen Wildwechsel tiefer in den Wald hinein.

Eine Weile waren sie gegangen, da blieb Merler wie erstarrt stehen. Zu seiner Rechten im Dickicht, ein gutes Stück abseits des Weges, schwebte ein Schwert. Es schwebte einfach in der Luft! Ein Schwert, das funkelte wie reinstes Gold. Etwas Derartiges hatte Merler weder in Markolos Waffenladen gesehen, noch sonst jemals irgendwo.

Der Junge ließ das Schwert nicht aus den Augen und rief leise nach Arno und dem Vater. Er bekam jedoch keine Antwort, hörte nur das Gezwitscher der Vögel.

„Sie sind sicher weiter gegangen“, dachte sich der Junge. „Umso besser. Denn wer etwas findet, der darf es behalten.“

Langsam und vorsichtig bahnte er sich einen Weg durch dorniges Gestrüpp zu dem goldenen Schwert hin. Beinahe hatte er die merkwürdige Waffe erreicht, als eine zornige Stimme die Stille des Waldes durchdrang: „Was tust du denn da?“

Merler drehte sich blitzschnell um. Da stand sein Vater, und er sah so aus, als könne er vor Ungeduld kaum an sich halten. Und neben dem Vater Arno, der seinen Bruder musterte, als sei er etwas besonders Widerwärtiges.

„Wir gehen jagen“, erklärte der Vater langsam und deutlich. „Jagen! Davon, tatenlos in die Luft zu starren, war nicht die Rede!“

Merler schaute Vater und Bruder verständnislos an. „Aber dort vorn schwebt ein Schwert“, versuchte er zu erklären. „Ein goldenes Schwert. Seht ihr es denn nicht?“

„Bitte, Merler“, sagte der Vater gereizt, „träum ein andermal weiter, ja? Nicht jetzt.“

„Ihr seht es nicht?“ fragte Merler verzweifelt. „Ihr seht es wirklich nicht?“

„Ich sehe nur, dass mein kleiner Bruder Merler zu viel Phantasie hat“, sagte Arno. „Oder ist er einfach nur dämlich? Was meinst du, Vater?“

Merler spürte, wie ihm vor Zorn das Blut in den Kopf schoss. „Jedenfalls bin ich nicht so dämlich wie du!“ zischte er.

Arno zuckte gelassen die Achseln. „Ich bin ganz zufrieden, was meine Intelligenz anbelangt.“

„Na ja“, gab Merler ihm zurück, „ich an deiner Stelle würde mir jedenfalls einen neuen Kopf wünschen. Einen, der zum Denken taugt.“

Bevor die Situation eskalieren konnte, mischte sich der Vater ein. „Das reicht!“ rief er. „Merler, genug! Du wirst vier Wochen lang nur noch auf dem Feld arbeiten und jagen. Und glaube nicht, dass dir dabei Zeit für dumme Phantasien bleiben wird! Ein schwebendes Schwert! Verkaufe mich nicht für dumm, Junge!“

Da verlor Merler die Geduld. Er machte zwei rasche Schritte auf das Schwert zu und griff blitzschnell zu. Keinen Gedanken verschwendete er daran, ob ihm das Schwert gefährlich werden konnte. Er wollte nur seinem Vater beweisen, dass er Recht hatte.

Kaum hatte er den Griff des goldenen Schwertes gepackt, da schoss eine heiße, goldene Welle aus dessen Spitze und wallte durch den ganzen Wald. Arno und der Vater wirkten nicht viel klüger als Kühe, als Merler sich triumphierend mit dem Schwert zu ihnen umdrehte.

Beide schwiegen zuerst in völliger Verblüffung und Fassungslosigkeit. Schließlich sagte der Vater leise: „Du hattest Recht, Merler. Du hattest Recht.“

Plötzlich sprach eine Stimme, die aus dem Schwert zu kommen schien: „Wer von diesem Schwert auserkoren wurde, ist so lange daran gebunden, bis er den Träger des Dunklen Zauberschwertes getötet und die Welt erlöst hat.“

Alle drei standen wortlos da. Was soll man sagen, wenn einem etwas Derartiges widerfährt? Merler begriff erst ganz allmählich, was die Inschrift ihm sagen wollte: dass er von dem Schwert auserkoren worden war,  als Besitzer des goldenen Schwertes dafür verantwortlich war, die Welt zu erlösen, indem er den Träger irgendeines Dunklen Zauberschwertes tötete.

Noch während er dastand und stumm das funkelnde Schwert anstarrte, verschwamm ihm plötzlich alles vor Augen. Es war, als würde sich die Welt auf den Kopf stellen. Merler griff sich an den Kopf, und als er wieder zu sich kam, sah er die Welt von oben: ein riesiger Wald, schmale Pfade – und ein riesiges Heer, das langsam den ganzen Wald durchströmte.

Allmählich wurde das Bild klarer, und Merler nahm Einzelheiten wahr: Das Heer bestand nicht etwa aus menschlichen Kriegern, nein. Es bestand aus furchtbaren Monstern. Es mussten Tausende sein. Drachen glitten schützend über sie hinweg. Und das Ziel dieses grauenhaften Heeres war seine, Merlers, Heimat. Plötzlich war dieses Wissen da, ohne ersichtlichen Grund.

Merler schnappte nach Luft – und als eine große Hand ihn an der Schulter packte, fand er unsanft in die Realität zurück.

Verwirrt sah der Junge sich um. Das goldene Schwert in der Hand, stand er nach wie vor in den vertrauten Wäldern Skandidafienas, Vater und Bruder ihn besorgt beobachtend.

„Hattest du wieder eine Vision?” Dieses Mal sprach der Vater freundlich, was Merler zusätzlich verblüffte. Normalerweise verlor der Vater die Geduld, wenn die Sprache auf Träume und Visionen kam.

Der Wind brachte die Blätter der Bäume leise zum Rauschen, und Vater und Bruder schauten Merler stumm und abwartend an. Schließlich sagte dieser langsam: „Ja, ich hatte eine Vision.”

„Wovon?“ fragte der Vater. Das war noch ungewöhnlicher für ihn: dass er nicht nur ruhig blieb, sondern auch noch Genaueres über die Visionen erfahren wollte.

„Ich – “ begann Merler. Er räusperte sich. „Ich sah – ich sah die Heimat von oben. Als würde ich fliegen. Ich sah, dass wir angegriffen werden, nachts. Von einem gewaltigen Heer.“

Im selben Moment, als er das sagte, wusste Merler, dass er besser geschwiegen hätte. Arno begann verächtlich zu grinsen, und Vaters Augenbrauen zogen sich bedrohlich zusammen.

„Ein gewaltiges Heer, sagst du“, wiederholte er. „Weswegen sollten wir wohl angegriffen werden? Du spinnst doch, Junge.“

„Du spinnst wirklich“, stimmte Arno ihm zu. Und mit einem Blick zum Himmel: „Vater, wenn wir vor Einbruch der Nacht mit Beute zu Hause sein wollen, müssen wir zusehen, dass wir weiterkommen!“

Vater nickte knapp. „Los“, sagte er. „Und, Merler – ich möchte nichts mehr von Visionen oder ähnlichem Schwachsinn hören. Ist das klar?“

Merler murmelte eine vage Zustimmung, aber bei sich dachte er nur: Oh, Vater! Das Schwert ist doch eindeutig da. Wieso glaubst du mir nicht? Wieso kannst du mir nicht einfach glauben?

Die Jagd verlief zwar erfolgreich, aber nicht besonders angenehm für Merler: Arno ließ ihn kaum aus dem Blickfeld, wohingegen sein Vater ihn die ganze Zeit ignorierte. Merler verstand diese Reaktion nicht, machte sich darüber jedoch keine weiteren Gedanken. Er verstand seinen Vater oft nicht, und dieser ihn wohl ebenso wenig.

Später trafen sich die drei mit der Mutter und Gremel am Waldrand.

„Wir haben viele Beeren gesammelt!“ Gremel und Mutter zeigten ihre Beute.

„Und wir haben einen Hirsch getötet!” sagte Arno mit stolzer Stimme. „Nun wird es endlich wieder genug zu Essen geben.“

„Merler hat ein goldenes Schwert gefunden”, murrte der Vater unvermittelt. Plötzlich herrschte Totenstille. Alle Blicke waren auf Merler und das Schwert gerichtet.

„Ein Zauberschwert“, rutschte es Merler heraus, als er an die blendende Welle dachte, welche aus der Schwertspitze geschossen war.

„Warum sollte das wohl ein Zauberschwert sein?”, fragte Gremel verdutzt. „Es scheint mir ganz gewöhnlich.“

„Gewöhnlich!“ rief Merler. „Es ist aus Gold, das siehst du doch! Und als ich es berührte, schoss eine goldene Welle daraus hervor.“

„Eine goldene… Also, nein!“ sagte die Mutter. „Ich verstehe nicht – erklärt doch, was es mit diesem Schwert auf sich hat.“

„Es schwebte in der Luft“, erklärte Merler eifrig. „Vater und Arno konnten es nicht sehen.“ Er berichtete alles, was im Wald geschehen war, und niemand unterbrach ihn. Nachdem er allerdings geendet hatte, stieß der Vater unwirsch hervor: „Irgendeine harmlose Erklärung wird sich gewiss dafür finden.“

Die Familie nickte zustimmend. Einzig Merler bezweifelte, dass sein Zauberschwert harmlos zu erklären war. Er schwieg jedoch, denn er wusste, dass die andern ihm nicht zuhören würden. Was man nicht sehen will, das sieht man nicht. Wenn die Beweise auch noch so klar auf der Hand liegen.

„Wir wollen nach Hause gehen“, sagte Vater, und er zwang sich zu einem Lachen. „Dort habe ich besonders für Merler ein paar hübsche Aufgaben, welche ihn womöglich von seinen Träumereien heilen und in die Wirklichkeit versetzen werden.“

Arno grinste voll Schadenfreude.

Sie verließen den Wald und gingen nach Hause.

Die folgenden Tage verliefen für Merler nicht sonderlich angenehm, da der Vater seine Drohung wahr machte und ihn unablässig arbeiten ließ. Der Junge musste die Felder bewässern und ähnliche Kraft fordernde Dinge erledigen, wohingegen Arno leichte Aufgaben bekam. Merler beklagte sich aber nicht, denn er wollte den Vater nicht wieder zornig machen.

Als Merler den Vater jedoch in den Wald begleiten musste, um Holz zu machen, kam es zu Schwierigkeiten. Die große Axt war viel zu schwer für den Jungen, vor allem deshalb, weil dieser auch noch sein Zauberschwert zu tragen hatte; er hatte es seit jenem Moment, als er es zum ersten Mal berührt hatte, nicht mehr aus der Hand gegeben.

Der Vater merkte wohl, wie schwer Merler trug, half ihm jedoch nicht. Alles was er tat war, das Schwert mit finsteren Blicken zu durchbohren.

„Konntest du dieses Schwert nicht zu Hause lassen?” schimpfte er schließlich.

„Nein“, sagte Merler leise. „Du kennst die Inschrift, Vater. Ich darf das Schwert nicht zurücklassen. Und vielleicht brauche ich es bald.“

„Wozu willst du im Wald wohl ein Schwert brauchen?“ fragte der Vater herablassend. Merler zuckte mehrdeutig die Achseln, und damit war das Gespräch beendet.

Merler arbeitete auch an diesem Tag hart. Er fällte einen Baum und hackte das Holz in Scheite, hackte, und hackte, und hackte.

Der Vater half kaum, und Merler schwitzte. Aber er gab nicht auf, und schließlich war der große Karren voll.

Die Familie lagerte stets eine kleinere Menge Holz in Spankörben neben dem Kamin, sodass immer welches in Reichweite war.

Merler füllte diese Körbe auf, und danach erlaubte ihm sein Vater endlich, eine Pause zu machen.

„Komm aber nicht zu spät zurück“, ermahnte er ihn noch. „Wir wollen am Abend gemeinsam essen. Lauf jetzt.“ Und Merler lief. Wohin? Nun, dorthin, wo er sich immer willkommen fühlte: bei der Familie seines Freundes Rada.

Leider war dort keiner zu Hause. Merler klopfte zweimal an die schwere Holztür und zog sie dann vorsichtig auf. Bevor er aber seinen Kopf in die Stube strecken konnte, sagte eine Stimme in seinem Rücken: „Hallo, Merler.“

Merler fuhr erschrocken herum. Vor ihm stand ein junger Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte: vielleicht zwanzig Jahre alt, lattendürr, mit einem Mondgesicht.

„W-woher kennen Sie m-meinen Namen?“ stotterte Merler. Das plötzliche Auftauchen des anderen hatte ihn überrascht.

„Deinen Namen kenne ich“, sagte dieser bedächtig, „weil ich dich seit langer Zeit beobachte.“

„Beobachten?“ fragte Merler verständnislos. „Mich? Aber weshalb denn?“

Die Antwort brachte ihn noch mehr durcheinander. „Weil ich längst ahnte, dass du der Auserwählte sein wirst“, sagte der Dürre.

„Auserwählt wofür?“ fragte Merler. Er begriff gar nichts mehr.

Der Dürre sah ihm das an, denn er räusperte sich und versuchte es noch einmal. „Ich ahnte, dass das Zauberschwert dich auswählen würde“, erklärte er. „Und das hat es nun getan. Es wollte von dir gefunden werden.“

Merler betrachtete das Schwert in seiner Hand und nickte nachdenklich. „Ich habe es gefunden, ja“, sagte er. „Könnt Ihr mir mehr darüber erzählen? Wie heißt Ihr?“

„Gara“, erwiderte der Dürre. „Gara der Weise. Auch bekannt als Der Geheime Weise.“ Er blickte sich unauffällig um, doch weit und breit war keine Menschenseele zu entdecken.

„Wir gehen besser zu mir nach Hause”, forderte Gara den Jungen. „Komm! Ich werde dir alles erklären.“

Er drehte sich um und schritt davon, und Merler blieb unschlüssig stehen und starrte der sonderbaren Erscheinung nach. Wo war er da nur hineingeraten?

Als Gara schon beinahe aus seinem Blickfeld verschwunden war, besann Merler sich und setzte ihm nach. Seine Neugier, mehr über das goldene Schwert in Erfahrung zu bringen, war schlicht zu groß.

Das Häuschen, zu dem Gara ihn führte, wirkte von außen ganz normal. Im Inneren allerdings unterschied es sich deutlich von seinem Elternhaus: allerlei Merkwürdiges lag und stand umher, und Merler wies unwillkürlich mit dem Hand auf einige Gegenstände, die auf dem Tisch lagen, und fragte: „Was ist denn das, Gara?“

Gara lachte. „Da hast du ja gleich das Interessanteste ausfindig gemacht, das mein Haus zu bieten hat“, sagte er. „Es sind Orden, die ich mir hart erarbeiten musste. Von den Eleten habe ich sie bekommen. Aber setz dich doch, Merler!“

Merler ließ sich gehorsam auf einem knarrenden Stuhl nieder und fuhr mit dem Finger vorsichtig über einen der seltsamen Orden. Gara nahm ihm gegenüber Platz.

„Es gibt also wirklich Eleten?“ fragte Merler. „Ich dachte, dieses Volk komme nur im Märchen vor.“ Merler lebte in einer Zeit, als die Menschen noch miteinander sprachen, sich mit allerlei Märchen und Geschichten die Zeit vertrieben und all ihr Wissen an nachfolgende Generationen weitergaben.

Er hatte die Dorfältesten viele Male von Wesen sprechen hören, welche sich Eleten nannten, diese jedoch als Phantasiegespinste abgetan.

„Das denken viele, ja“, nickte Gara. „Ich kann dir aber versichern: die Eleten gibt es wirklich. Faszinierende Wesen. Ich hatte viel Mühe, ihre Sprache zu erlernen.“

„Wie sehen sie aus?“ fragte Merler begierig. „Ähnlich wie wir?“

„Auf den ersten Blick sehen sie durchaus so aus wie du und ich“, erwiderte Gara. „Allerdings sind ihre Ohren nicht rund, sondern eckig. Und wahre Künstler der Magie sind sie! Außerdem können Eleten viel schneller laufen als Menschen – und mit Pfeil und Bogen gehen sie um wie sonst niemand.“ Er schwieg einen Moment und fragte dann leise: „Du hast Visionen, Merler, nicht wahr?“

Merler sah ihn überrascht an. „Ja“, sagte er. „Woher wisst Ihr das?“

„Ich bin dir in den Wald gefolgt“, erklärte Gara. „An dem Tag, als du das Zauberschwert fandest. Ich hörte dich mit deinem Vater über die Visionen sprechen.“ Und dann fragte er: „Was hast du sonst noch gesehen, Merler? Was zeigen dir deine Visionen?“

Merler zögerte mit der Antwort. Sein Gefühl sagte ihm allerdings, dass er Gara vertrauen könne, und so erzählte er, dass er gesehen habe, wie Alambinea von unheimlichen Wesen angegriffen und eingenommen wurde.

„Ah ja, Alambinea“, murmelte Gara. „Das war eine große Niederlage für unsere Seite – das Imperium hat durch diese Schlacht erneut Land gewonnen.“

„Was bedeutet Imperium?“ fragte Merler verständnislos. „Das Böse?“

„So kann man sagen, ja“, antwortete Gara grimmig. „Und jetzt hör zu, was ich dir erzähle, denn über das Imperium musst du Bescheid wissen.  Es wird beherrscht vom Dunklen Zauberschwert, welchem vier Armeen unterstehen. Die Armee der Zimisisten kennt weder Gnade noch Mitleid. Das muss nicht wundern, da es sich um Wesen ohne Herz handelt. Zimisisten werden nicht besonders groß, sind jedoch ausgesprochen gut zu Fuß – vergleichbar mit den Eleten – und hervorragende Kämpfer. Besonders mit dem Schwert wissen sie umzugehen.“

„Wenn sie kein Herz haben“, warf Merler ein, „sind sie denn dann gar nicht aus Fleisch und Blut?“

„Nein“, sagte Gara, „Zimisisten sind mit Menschen nicht vergleichbar. Wenn du einen von ihnen tötest, wird außer schlammiger Erde nichts von ihm übrig bleiben.“

Merler schüttelte ungläubig den Kopf. Dieses neue Wissen war beinahe zu viel für ihn. Und außerdem – konnte er Garas Worten denn wirklich Glauben schenken?

„Wie soll ich wissen, ob ich Euch vertrauen kann?“ fragte er scheu. „Vielleicht seid Ihr… von der Dunklen Seite? Und nur hinter dem Goldenen Schwert her?“ Unwillkürlich legte er seine Hand über den Schwertknauf.

„Das bin ich nicht“, sagte Gara ernst. „Ich kann es dir nicht beweisen, aber du musst mir vertrauen.“

Merler holte tief Luft und sah aus dem Fenster in die untergehende Sonne. Tief am Himmel stand sie schon, und schlagartig fiel dem Jungen ein, was sein Vater ihm befohlen hatte: „Komm nicht zu spät zurück!“

Merler sprang auf und hätte in der Eile fast seinen Stuhl zu Boden gestoßen. „Ich muss nach Hause!“ stieß er hervor. Gara erhob sich ebenfalls.

„Dann geh“, sagte er. „Aber du musst morgen wiederkommen, dass ich dir mehr über das Imperium erzählen kann. Hast du gehört? Du musst wiederkommen!“

„Ich komme“, versprach Merler. Mit diesen Worten verschwand er nach draußen und rannte den Weg entlang nach Hause.

Er schaffte es gerade noch zum Abendbrot. Der Tisch war reichlich gedeckt mit Brot und Fleisch, und die Familie ließ es sich schmecken. So beschäftigt waren sie, dass nur ihr Kauen zu hören war und das Knarren der Stühle. Vaters Stuhl knarrte besonders laut, und Merler erwartete im Stillen schon lange, dass er eines Tages unter dem Gewicht seines Vaters nachgeben würde.

Merler schlief in dieser Nacht lange nicht ein. Er wälzte sich in seinem Bett umher und überdachte die seltsamen Ereignisse, die ihm die letzten Tage widerfahren waren: Den Fund des Zauberschwertes; Gara, der ihn offenbar seit langem beobachtet hatte und eine Menge über ihn wusste; und Garas Geschichte über die vier Dunklen Armeen.

Als der Junge endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, sah er in seinem Traum wieder ein Heer vor sich, welches seine Heimat angriff. Die Bauern rannten in panischer Hast hinauf zur Stadt, von deren Mauern sie sich Schutz erhofften.

Plötzlich durchschnitt eine dröhnende Stimme das Geschrei der Bauern: „Steh auf, Merler!“ Merler fuhr hoch und sah in seiner Schlaftrunkenheit gerade noch, wie seine Mutter aus dem Zimmer eilte. Der Junge rieb sich den Schlaf aus den Augen und versuchte benommen, sich an seinen Traum zu erinnern. Es ärgerte ihn, dass seine Mutter ihm das Ende des Traumes verwehrt hatte.

Merler schlüpfte in Hemd und Hose und trottete seiner Mutter hinterher, um zu frühstücken. Es gab Brot, Eier und Wasser, wie jeden Morgen. Und gleich nach der Mahlzeit wurden Arno und Merler vom Vater zur Arbeit abgerufen – ebenfalls wie jeden Morgen.

Merler erledigte alle ihm auferlegten Arbeiten schnell und ohne Murren, was den Vater in Erstaunen versetzte.

„Nanu, Merler“, sagte er. „So eifrig heute? Das kenne ich gar nicht an dir.“

„Ich möchte schnell fertig werden“, erwiderte Merler, „um heute Nachmittag etwas freie Zeit zu haben.“

„Die sollst du bekommen“, sagte Vater wohlwollend. „Wer gut arbeitet, hat sich eine Pause verdient. Für heute Nachmittag gebe ich dir frei.“

Merler wurde rot vor Freude. Natürlich ging es ihm nicht nur darum, freie Zeit zu haben. Er wollte Gara besuchen und sich den zweiten Teil seiner Geschichte anhören.

Arno reagierte mit heftiger Eifersucht, als er erfuhr, dass sein kleiner Bruder den Nachmittag über frei bekommen würde. Er beharrte darauf, dass eigentlich er es sei, der sich ein paar freie Stunden verdient hatte. Der Vater ging darauf aber nicht ein.

Merler schlang sein Mittagessen förmlich hinunter und biss vor lauter Hast sogar auf seinen Löffel. Mutter, Vater und Geschwister beobachteten ihn neugierig, denn eine solche Schlingerei passte gar nicht zu ihrem Merler. Sie gaben sich jedoch mit der Erklärung zufrieden, er freue sich auf seinen ruhigen Nachmittag und könne es kaum erwarten, endlich loszuziehen.

Unmittelbar nach dem letzten Bissen schob Merler seinen Teller zurück und war ohne ein Wort des Abschieds zur Tür hinaus. Sein Zauberschwert ließ er diesmal zu Hause. Er vermochte selbst nicht zu sagen, weshalb. Wohl aus Sorge, Gara könnte sich doch als Bösewicht erweisen und ihm das Schwert entwenden.

Gara öffnete die Tür, kaum dass Merler angeklopft hatte.

„Ah, Merler, komm herein“, begrüßte er ihn. Merler huschte an ihm vorbei und setzte sich unaufgefordert auf denselben Stuhl wie tags zuvor.

„Ich habe den ganzen Tag frei!“ berichtete er stolz. „Ihr habt also genug Zeit, mir alles zu erzählen, was ich wissen muss.“

„Höre, Merler“, sagte Gara, „möchtest du nicht du zu mir sagen?“

„Gerne“, sagte Merler erfreut. Gara lächelte. „Es ist schön, dass du viel Zeit mitgebracht hast“, fuhr er fort. „Ich habe für heute eine Menge mit dir vor! Du musst lernen, mit deinem Schwert umzugehen. Doch zunächst sollst du wissen, was es mit den vier Dunklen Armeen des Imperiums auf sich hat.“

Und Gara begann zu erzählen: „Die zweite Dunkle Armee besteht aus so genannten Trollmenschen. Wie der Name schon sagt, handelt es sich weder um Trolle, noch um Menschen. Diese Wesen haben Kopf und Verstand eines Menschen, aber den Körper eines Trolls. Vom Körperwuchs sind sie eher schmächtig – sie werden etwa so groß wie du, Merler, wohingegen richtige Trolle durchaus eine Größe von bis zu drei Metern erreichen konnten.“

„Konnten?“ warf Merler ein. „Gibt es etwa keine richtigen Trolle mehr?“ Gara schüttelte den Kopf.

„Sie starben aus, noch bevor die beiden Zauberschwerter geschmiedet wurden“, sagte er. „Was du außerdem wissen solltest: Trollmenschen sind ebenso wenig aus Fleisch und Blut wie die Zimisisten. Ihre Körper bestehen aus einer Art Metall, und du kannst dir sicher denken, dass sie folglich schwer zu töten sind.“ Gara dachte kurz nach und fuhr sich mit der Hand über die rosige Wange. „Nun denn, kommen wir zur dritten Dunklen Armee. Sie setzt sich zusammen aus Gesteinsmonstern. Hast du davon schon gehört?“ Kopfschütteln war die Antwort. „Auch Gesteinsmonster sind von Grund auf böse. Gnade kennt kein Geschöpf der dunklen Seite! Nimm dir das gut zu Herzen und lass dir nichts anderes vormachen, Merler. Die Gesteinsmenschen sind wahrhaftig Geschöpfe mit Körper und Herz aus Stein.“

„Wenn man aus Stein besteht“, fragte Merler nachdenklich, „wovon ernährt man sich dann?“

Garas Augen verengten sich kaum merklich. „Ich sage dir alles, was du wissen musst“, meinte er leise. „Höre, und unterbrich mich nicht!“

Merler nickte eingeschüchtert, und Gara fuhr fort: „Wenn es auch seltsam klingen mag, so vermehren sich Gesteinsmenschen auf dieselbe Art wie wir Menschen. Es gibt in der Tat Gesteinskindern! Aber ich sage dir, Junge, freunde dich nicht mit ihnen an! Auch die Kinder der Gesteinsmenschen sind böse, und sie haben die Kraft eines erwachsenen Mannes.“ Er warf Merler einen eindringlichen Blick zu. „Um nun zu deiner Frage zu kommen“, sagte er, „so lässt sich nur sagen, dass Gesteinsmenschen sich überwiegend von Steinen ernähren.“

Wieder schwieg Gara einen Moment, bevor er mit einem unheimlichen Unterton in der Stimme erzählte, was es mit der vierten Dunklen Armee auf sich hatte.

„Armee der Todesdrachen nennt man sie“, sagte er, und Merler spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief, als er den Namen hörte. „Die Todesdrachen sind die gefährlichsten Drachen, die es je gab und je geben wird. Sie speien kein gewöhnliches Feuer, sondern Todesfeuer. Wer von einem Funken dieses Feuers erwischt wird, stirbt.“

Merler starrte ihn aus erschrockenen Augen an. Ihm kam Gara mit seiner scheinbaren Gefühllosigkeit zunehmend furchteinflößend vor.

„Todesdrachen fressen Fleisch“, sagte Gara. „Viel Fleisch. Dabei scheren sie sich nicht darum, ob das Fleisch von Tieren oder Menschen stammt, wenn du verstehst was ich meine. Ich nehme an dich interessiert, wie man diese Drachen besiegen kann?“

„Ja, natürlich!“

„Ziele stets auf ihre Brust“, sagte Gara einfach. „Die Brust ist ihre Schwachstelle – die einzige, die sie haben. Und damit wären wir am Ende der Geschichte angelangt.“ Gara musterte Merler wachsam. „Hast du noch Fragen, Merler?“

„Ja“, sagte Merler. „Imperium, was bedeutet das?“

„Man spricht auch vom Dunklen Dala“, erwiderte Gara. „Versprich mir, diesen Namen gegenüber nichts und niemandem zu erwähnen!“

„Warum?“ fragte Merler erstaunt. „So schlimm klingt das nicht.“

„Die Angst, welche die Menschheit vor dem Namen hat, rührt von seiner Geschichte“, erklärte Gara. „Das Dunkle Dara bezeichnet das Land, in dem Asro geboren wurde. Asro, der das Dunkle Zauberschwert fand – wo oder wie, das vermag ich nicht zu sagen. Nun, Asro war ein Mann, dessen Herz von Hass erfüllt war. Er hatte keine Freunde, verabscheute sogar seine Familie. Nachdem er das Dunkle Zauberschwert gefunden und die vier Dunklen Armeen unter seine Herrschaft gebracht hatte, konnte er ganz Dala erobern. Nicht einen Menschen ließ er am Leben.“

„Er ließ alle töten?“ flüsterte Merler fassungslos. „Seine – seine Familie etwa auch?“

„Hast du nicht zugehört?“ fragte Gara missbilligend. „Wenn ich sage, er ließ keinen Menschen am Leben, dann meine ich das auch so.“

Merler zuckte zusammen, und das Gefühl des Unbehagens, das er schon seit geraumer Zeit verspürte, verstärkte sich noch. Gara war ihm nicht ganz geheuer, und er bereute schmerzlich, sein Zauberschwert zu Hause gelassen zu haben.

„Woher weißt du das alles?“ fragte er leise.

„Ich wurde ihn Dala geboren“, antwortete Gara. „Vom Sehen kannte ich Asro. Als seine Armeen die Stadt angriffen, floh meine Familie nach Skandidafiena. Asro erfuhr von unserer Flucht und schickte uns Krieger nach, die uns nachts an unserem Lager am Fluss überraschten. Bei dem, was folgte, rutschte ich aus und fiel in den Fluss. Zu mir gekommen bin ich erst, als ich weitab der Stelle, wo wir überfallen wurden, ans Ufer gespült wurde. Ein Jäger fand mich, und er nahm mich zu sich und zog mich auf. Über ihn kam ich zur IW.“

„Was bedeutet IW?“

„Imperium Widerstand.“ Gara starrte versonnen die Tischplatte an. „Wir bekämpfen das Imperium.“

„Wieso bist du hierher gekommen?“ bohrte Merler weiter.

„Wir ahnten, dass das Goldene Zauberschwert in dieser Gegend auftauchen würde“, erwiderte Gara. „Und wir lagen richtig, denn du hast es gefunden.“

„Was – “ Merler räusperte sich. „Was ist aus deiner Familie geworden, Gara?“

„Das weiß ich nicht“, lautete die barsche Antwort. „Höre, Merler, auf dich warten große Abenteuer. Der Träger des Goldenen Schwertes hat die Aufgabe, gegen das Imperium zu kämpfen. Asro und das Dunkle Schwert zu besiegen. Es bedeutet, dass du fort musst von zu Hause.“

Merler schluckte. Damit hatte er gerechnet, und dennoch zog sich sein Herz zusammen.

„Ich weiß nicht“, murmelte er. „Ich weiß nicht, was von mir erwartet wird. Was ich tun muss. Und ich bin ganz allein!“

„Du bist nicht allein“, sagte Gara. „Ich bin sicher, dass Rada dich begleiten wird. Und ich werde euch beide lehren, mit einem Schwert umzugehen. Bist du bereit?“

Merler zögerte, aber der Gedanke an seinen Freund Rada machte ihm Mut. „Ja“, sagte er und richtete sich auf. „Ja, ich bin bereit.“

Rada folgte Gara und Merler auf Merlers Drängen hin zu einer Wiese außerhalb des Dorfes, ohne Fragen zu stellen. Erst dort bekam er in knappen Sätzen die ganze Geschichte zu hören. Und weil Rada ein wirklicher Kamerad war, zögerte er keine Sekunde, gemeinsam mit Merler gegen das Imperium zu kämpfen.

Gara nickte befriedigt. „Dann wollen wir euch auf die Welt dort draußen vorbereiten“, sagte er. „Ich zeige euch, wie man kämpft.“

„Womit soll ich denn kämpfen?“ fragte Rada nervös. „Ich besitze kein Schwert, und auch sonst keine Waffe.“

Gara winkte ab. Aus einem Sack, der ihm über der Schulter hing, zog er ein langes Schwert, einen Langbogen und einen gelben Köcher. Alle drei Dinge überreichte er Rada, welcher sie außer sich vor Freude in Empfang nahm.

„Sei vorsichtig damit!“ warnte Gara den eifrigen Jungen. „Dies ist kein gewöhnlicher Bogen. Er wurde verzaubert.“

„Ein verzauberter Bogen“, sagte Rada glücksselig. „Und er gehört mir! Was ist das Besondere an ihm, Gara?“

„Das werde ich dir zeigen“, erwiderte Gara. Er nahm den Bogen, harkte einen Pfeil ein und murmelte: „Feuerpfeil!“ Im Nu flammte die Pfeilspitze feuerrot auf.

„Bei Berührung entsteht sofort ein Brand“, erklärte Gara.  Er nahm einen anderen Pfeil, sprach: „Wasserpfeil!“ – und die Pfeilspitze flimmerte wasserblau auf.

„Wird dieser Pfeil auf eine Flamme abgeschossen, erlischt diese sofort“, erklärte Gara. „Davon“, erklärte er den gespannt lauschenden Jungen, „befindet sich jeweils eine gute Anzahl in deinem Köcher. Außerdem hast du mehrere kleine Explosionspfeile und einen, der sich Gigantischer Explosionspfeil nennt. Geh behutsam mit diesem kleinen Schatz um, Rada!“

„Oh ja, das werde ich!“ versicherte Rada. Etwas Wunderbareres als diesen Köcher voll verzauberter Pfeile hatte er noch nie in seinem Leben besessen. Dass er gut darauf Acht geben würde, war selbstverständlich.

„Nun, dann werde ich euch als nächstes in die Kunst des Schwertkampfes einweihen“, rief Gara auffordernd. „Wo hast du das Zauberschwert, Merler?“

Merler zog erschreckt die Luft ein.

„Das Zauberschwert…“ murmelte er. „Ich habe es zu Hause gelassen, Gara! Ausgerechnet heute! Ich hole es sofort!“ Er wandte sich um, doch Gara fasste ihn am Arm und schüttelte den Kopf.

„Junge, du musst noch viel lernen“, sagte er. „Nun, da du im Besitz des Goldenen Schwertes bist, hast du selbstredend auch einige Fähigkeiten hinzugewonnen. Sprich mir nach: Arle Goldenes Zauberschwert.“

Arle Goldenes Zauberschwert“, wiederholte Merler gehorsam, wenn er auch nicht wusste, was dieses Arle zu bedeuten hatte. Er erfuhr es jedoch recht schnell: in dem Moment, als er die Worte gesprochen hatte, lag das funkelnde Schwert in seiner Hand.

In seiner Überraschung hätte Merler die schwere Waffe beinahe fallen lassen. Er und Rada starrten sich fassungslos an, bis Merler achselzuckend murmelte: „Mich wundert nichts mehr, Rada.“

„Großes Glück für dich“, bemerkte Gara, welcher es für überaus selbstverständlich zu halten schien, dass Merler plötzlich zaubern konnte. „Und wenn es euch beiden genehm ist, fangen wir jetzt an.“

„Ja“, sagte Merler rasch, „fangen wir an.“

Und dann kämpften sie. Gara erwies sich als ausgezeichneter Lehrer, der den Jungen in kurzen, klaren Sätzen erläuterte, was sie zu tun hatten und was er von ihnen erwartete.

Anfangs war es ungewohnt und kraftaufwendig, die großen Schwerter zu führen. Sowohl Merler als auch Rada erlernten jedoch bald die nötigen Kniffe, und sie bewegten sich zusehends schneller und sicherer.

Sie wechselten sich ab: manchmal übten sich die beiden Jungen im Schwertkampf, dann wieder schoss Rada mit seinen neuen Pfeilen, während Garas und Merlers Schwerter klirrend aufeinander trafen.

Auf Grund seiner langjährigen Erfahrung hatte Gara Merler bei diesen Zweikämpfen natürlich einiges voraus, doch das änderte sich im Laufe der folgenden Wochen: sooft sie nur konnten, stahlen sich die Jungen von zu Hause fort, um im Schwertkampf unterrichtet zu werden.

Aber nicht nur im Gebrauch mit Waffen wurde Merler sicherer; Gara brachte ihm, wann immer es ihm angemessen schien, Zaubersprüche bei, und zu jedermanns Erstaunen konnte Merler diese Sprüche auf Anhieb behalten. Nicht genug damit! Manchmal erfuhr er sogar durch seine Visionen von Zaubersprüchen, die Gara ihn noch gar nicht gelehrt hatte.

Auf Merlers Frage, weshalb er denn auf einmal zaubern könne, bekam er zur Antwort, dass das der Besitz des Goldenen Schwertes  bewirke.

Die Unterrichtsstunden bei Gara fanden ein jähes Ende, als es Merler eines Tages gelang, seinem Lehrer mit einem raschen, unerwarteten Hieb das Schwert aus der Hand zu schlagen. Gara sah äußerst zufrieden aus.

„Ich denke, eure Ausbildung ist hiermit erfolgreich beendet“, sagte er. „Ihr seid beide sehr gut geworden, und mehr kann ich euch nicht lehren.“

„Dann geht es jetzt also los?“ fragte Merler. „Wir müssen aufbrechen, das Imperium bekämpfen, Gara, ist es so?“

„Ja, Merler“, erwiderte Gara. „Ihr seid jetzt soweit, euch auf den Weg nach Tharland zu machen.“

„Tharland?“ wiederholte Rada verständnislos. „Aber ich dachte, wir sollten das Imperium…“

„Ihr sollt das Imperium bekämpfen“, fiel Gara ihm ins Wort. „Und dazu gehört, dass ihr nach Tharland zieht. Dort werdet ihr erfahren, wie es weitergeht.“

Merler hatte die ganze Zeit gewusst, dass er seine Heimat bald verlassen musste, um gegen die Dunkelheit in den Kampf zu ziehen. Als es nun aber wirklich daran ging, aufzubrechen, spürte er eine tiefe Angst in sich. Eine Angst vor dem, was ihn erwartete, und davor, zu versagen. Zudem konnte er sich noch immer kein klares Bild davon machen, was Gara von ihm erwartete. Wohin er gehen, was er dort tun, wie er die Dunkelheit besiegen sollte. Er war doch erst vierzehn, dessen war sich Merler in diesem Augenblick nur zu bewusst.

Rada legte ihm einen Arm um die Schultern, als spüre er, was in seinem Freund vor sich ging.

„Wann brechen wir auf?“ fragte er Gara.

„Das entscheidet ihr“, antwortete Gara. „Aber ich rate euch, lasst euch nicht zu viel Zeit. Das Dunkle rastet nicht. Niemals.“

„Wir gehen morgen!“ sagte Merler plötzlich mit fester Stimme. Rada nickte wortlos, und Gara blickte beide mit diesem für ihn typischen eindringlichen Blick an.

„Morgen“, sagte er, „das ist gut. Ich werde vor Anbruch der Morgendämmerung hier auf euch warten.“

„Wir werden sein“, versprach Merler. Und Seite an Seite mit Rada ging er nach Hause, zum letzten Mal für sehr lange Zeit.